Ein Bericht von Gordana Mijuk und Michael Furger aus der NZZ am Sonntag.

Zu viele alte Menschen bringen der Schweiz nichts ausser Kosten, heisst es. Falsch. Sie machen unser Land reicher, produktiver und sozialer.

Am 6. Dezember 2003 gab der Entertainer Johannes Heesters in der Sendung «Wetten, dass…?» ein Lied zum Besten. Hochbetagt, doch aufrecht stand er am Flügel, voll das Haar, klar die Stimme. Im Hintergrund summte ein Kinderchor, als Heesters zum Refrain ansetzte: «Ich werde 100 Jahre alt, das könnt ihr mir glauben. Darauf trinke ich ein Gläschen Wein.» Der Clou: Heesters war damals schon 100 Jahre alt. Er hatte einen Tag zuvor Geburtstag gefeiert. Heesters wurde damals bewundert wie jemand von einem anderen Planeten. 100 Jahre, ein geradezu märchenhaftes Alter.

In der Schweiz erreichten um die Jahrtausendwende nur rund 800 Menschen diese Schwelle. Heute sind es doppelt so viele. 100 Jahre alt zu werden, ist bald nichts Aussergewöhnliches mehr. Jedes Kind, das heute in der Schweiz zur Welt kommt, hat eine 50-prozentige Chance, 100-jährig zu werden. Die Lebenserwartung in den Industrienationen steigt jedes Jahr um bis zu vier Monate. Vor 15 Jahren betrug die mittlere Lebenszeit für Männer in der Schweiz noch 77 Jahre, heute sind es 81. Bei den Frauen stieg die Zahl von 82,6 auf 85,2. Damit ist die Schweiz zum Land mit der dritthöchsten Lebenserwartung aufgestiegen, nach Japan und Spanien. Bei den Männern sind wir sogar Spitzenreiter.

Solche Rekordwerte bereiten allerdings den Krankenkassen und den AHV-Ausgleichskassen keine Freude. Wenn Menschen immer älter werden, gibt es zwangsläufig immer mehr Senioren, dazu kommt, dass weniger Kinder geboren werden. Das Loch im Topf für die Altersvorsorge ist ein Dauerthema, die steigenden Gesundheitskosten ebenso. Wer in der Schweiz von Überalterung spricht, tut dies mit Sorgenfalten auf der Stirn. Dabei ist die steigende Lebenserwartung eine «grossartige zivilisatorische Errungenschaft». So sieht es jedenfalls Peter Gross. Er ist emeritierter Professor für Soziologie und selbst 74 Jahre alt. «Man sollte», sagt er, «das Wachstum der Lebenserwartung feiern, statt es als Zumutung anzusehen.»

Tatsächlich wurde uns in den letzten Jahrzehnten eine neue Lebensphase geschenkt. Zwischen das Pensions- und das Greisenalter haben sich etwa 15 Jahre geschoben, in denen die Menschen fit und produktiv sind – und Zeit haben. Gross hat seit seiner Pensionierung drei Bücher geschrieben. «Es gibt Dinge, die kann man besser, wenn man älter ist.» Über grundlegende Fragen nachdenken oder künstlerisch tätig sein. «Schauen Sie sich die Spätwerke der Literaten, Musiker und bildenden Künstler an.» Die Rolling Stones haben eben ein grandioses Konzert in Kuba gegeben. Das jüngste Bandmitglied ist 69 Jahre alt. Dabei ist es nicht lange her, da galt man mit 65 Jahren als alt. Heute fängt das eigentliche Altsein erst mit 80 oder 85 Jahren an. Das spiegelt sich in den Gesundheitskosten. Sie steigen erst gegen das 80. Lebensjahr steil an. Dann beginnt oft auch die Pflegebedürftigkeit. Dass man heute so lange fit bleiben kann, ist einerseits auf die AHV zurückzuführen: Die soziale Absicherung steigert das Wohlbefinden. Fortschritte in der Medizin, eine bessere Ernährung und weniger anstrengende Arbeiten tragen ebenfalls dazu bei.

«Der Mensch kann aufgrund seiner Veranlagung 94 bis 96 Jahre alt werden», sagt der emeritierte Soziologe und Altersforscher François Höpflinger. Dieses Potenzial sei noch nicht ganz ausgeschöpft. Das hohe Alter hilft auch beim Sterben. «Je älter man wird, desto leichter fällt es», sagt Peter Gross. Wurde man im letzten Jahrhundert oft jäh aus dem Leben gerissen, kann man sich heute besser aufs Ende vorbereiten. Die Folgen einer längeren Lebenserwartung sind vor allem positiv. Ein Überblick:

Wer länger lebt, kann länger arbeiten

Die AHV gab letztes Jahr eine halbe Milliarde Franken mehr aus, als sie einnahm. Die Umverteilung von Jung zu Alt funktioniert nicht mehr so gut wie früher. Und die Lage wird bald prekärer, da die sogenannten Babyboomer pensioniert werden. Geburtenreiche Jahrgänge gehen in Rente, unter ihnen viele wohlhabende Männer. Bis 2024 droht das Loch auf 10 Milliarden Franken anzuwachsen.

Im Jahr 1948, als die AHV eingeführt wurde, lebten 65-jährige Männer im Schnitt noch 12 und Frauen 14 Jahre. Heute sind es über 19 beziehungsweise 22 Jahre. Es gibt Lösungen: ein Mindestrentenalter von 67 Jahren sowie eine deutliche Senkung des Umwandlungssatzes bei der zweiten Säule. Dieser wandelt das Altersguthaben in eine jährliche Rente um. Doch die Politik blockiert Reformen wie diese seit über zehn Jahren. Die geplante Rentenreform von Bundesrat Alain Berset sieht nur eine mickrige Erhöhung des Frauenrentenalters von 64 auf 65 Jahre vor. Schwer verständlich, wenn man bedenkt, dass viele andere Industrienationen das Rentenalter auf 67 Jahre erhöht haben. Länder notabene, in denen die Lebenserwartung tiefer ist als in der Schweiz.

Der emeritierte Soziologe Peter Gross fordert, auf ein fixes Rentenalter vollständig zu verzichten. Befürchtungen, die Menschen würden sich dann früher pensionieren lassen, hält er für unbegründet. «Viele 65-Jährige wollen gerne weiterarbeiten.» In verschiedenen Berufsfeldern sei dies auch ohne weiteres möglich, etwa im Dienstleistungsbereich, in der Bildung, der Beratung und der Kommunikation. «Da haben Ältere hervorragende Voraussetzungen, nur glaubt die Wirtschaft heute noch nicht daran.» Gross sieht ältere Menschen auch in Ordnungs- und Sicherheitsdiensten. «Gerade werden im Rheintal wieder 89 Grenzwächter gesucht. Wieso stellt man keine Alten ein? Junge Besen kehren zwar gut, aber alte wissen, wo der Dreck liegt.»

Tatsächlich haben ältere Menschen heute auf dem Arbeitsmarkt einen schweren Stand, obwohl in vielen Bereichen verzweifelt nach Fachkräften gesucht wird. Wer heute über das Pensionsalter hinaus arbeitet, ist meistens selbständig, stellt sich also selbst an, oder darf im Familienunternehmen weiterhin aktiv sein. «Alt» ist man im Arbeitsmarkt allerdings nicht erst mit 65, sondern schon mit 50 Jahren. Wer ab diesem Alter die Stelle verliert, hat Mühe, eine neue Anstellung zu finden. Dies betrifft auch Hochqualifizierte.

Ältere Arbeitskräfte sind teurer als jüngere. Wer also mit über 65 weiterarbeiten möchte, müsste dies zu einem tieferen Lohn und mit tieferen Pensionskassenbeiträgen tun. Das wäre nichts Neues. Japan gilt hier als Vorbild. Der Soziologe Gross spricht von der «japanischen Bananenkurve». Der Lohn steigt bis ins 50. Altersjahr, danach sinkt er wieder, und dies auch, wenn man nach 50 noch befördert wird. «Ein 60-jähriger General in Japan verdient unter Umständen weniger als ein 49-jähriger Oberst», sagt Gross.

Wer länger lebt, kann länger gesund sein

Die Rechnung ist scheinbar einfach: Die demografische Alterung führt zu einer massiven Erhöhung der Gesundheitskosten, denn je älter wir werden, desto anfälliger für Krankheiten sind wir. Der Bund hat dazu dicke Studien verfasst, die den Demografie-Effekt in Zahlen fassen. So sollen die Gesundheitskosten bis im Jahr 2060 von heute schon 12 Prozent auf fast 16 Prozent des Bruttoinlandproduktes ansteigen. Besonders stark ins Gewicht fallen die Kosten für die Pflege, namentlich für Demenzkranke.

Doch so einfach ist das nicht. Die demografische Alterung ist nicht der Hauptgrund für die steigenden Kosten, wie der Altersforscher François Höpflinger betont. In den letzten Jahrzehnten kam es nicht nur zu einer Erhöhung der Lebenserwartung, sondern auch der behinderungsfreien Lebenserwartung. Senioren sind länger fit. «Wenn ältere Menschen später hilfs- und pflegebedürftig werden, erhöht sich der Pflegebedarf langsamer, als dies eine demografische Fortschreibung aktueller Zahlen andeutet.» Schon heute zeigt die Statistik: Die Gesundheitskosten nehmen erst gegen das 80. Lebensjahr stark zu.

Die Gesundheitskosten alter Menschen seien nicht vom Alter abhängig, sondern davon, wie nah sie dem Tod sind, sagt Höpflinger. Das beste Mittel gegen den Kostenanstieg ist seiner Meinung nach die Gesundheitsförderung – und die Bildung. Eine bessere Ausbildung führt zu einem besseren Lohn und zu einer besseren Absicherung im Alter. Die Gesundheit ist davon abhängig. Ganz vermeiden lassen sich Alterspflege und hohe Kosten aber nicht.

Wer länger lebt, kann länger Steuern zahlen

Ältere Menschen haben Geld, und zwar nicht wenig. Wie viel Vermögen die Pensionierten in diesem Land besitzen, darüber schweigen sich die Steuerverwaltungen aus. Philippe Wanner vom Institut für Demografie und Sozioökonomie der Universität Genf schätzt, dass die Personen im Ruhestand über das grösste Vermögen in der Schweiz verfügen. Laut der Stiftung Pro Senectute Schweiz sind mehr als die Hälfte der Vermögensmillionäre im AHV-Alter. Im Kanton Zürich machen Rentner rund 20 Prozent der Steuerpflichtigen aus. Von ihnen kommt aber die Hälfte aller Vermögenssteuern. Trotz einer steigenden Zahl von Senioren, die auf Ergänzungsleistungen angewiesen sind, leben heute also viele Rentner in einer komfortablen finanziellen Situation.

Das kommt auch der Allgemeinheit zugute. «Auch Senioren zahlen Einkommens-, Vermögens- und Mehrwertsteuer», sagt Soziologe Peter Gross. «Wenn alle Pensionäre in einen Steuerstreik träten, würde das ganze Land lahmgelegt.» Dass man im Zusammenhang mit der Überalterung stets von einer Umverteilung von den Jungen zu den Älteren spricht, ärgert ihn. Das Steuergeld, das die Älteren zahlten, fliesse zum Beispiel zu einem grossen Teil in die Bildung und komme damit jüngeren Generationen zugute.

«Wenn alle Pensionäre in einen Steuerstreik träten, würde das ganze Land lahmgelegt»

Allerdings verzögert sich mit der langen Lebenserwartung der Vermögenstransfer über die Generationen. Kinder erben später das Vermögen ihrer Eltern. Das Geld fliesst also nicht dann, wenn man es zur Gründung einer Familie, zum Kauf eines Hauses oder zum Aufbau einer beruflichen Existenz brauchte, sondern in der Mehrheit erst nach dem 50. Lebensjahr. Die Summe, die jährlich von Hochbetagten zu Senioren fliesst, ist gewaltig. Der Ökonom Marius Brülhart von der Universität Lausanne errechnete kürzlich für das Schweizer Fernsehen ein Erbvolumen von 76 Milliarden Franken im Jahr 2015. Das Loch in der AHV von einer halben Milliarde erscheint plötzlich klein.

Die finanziell gut gebetteten und aktiven Rentner sind auch eine interessante Zielgruppe für die Wirtschaft: Reisen, Kleider, Autos, gutes Essen. Auf diesem Weg fliesst ein Teil des Geldes wieder in den Wirtschaftskreislauf.

Die Lebenserwartung bei Geburt hat sich in der Schweiz deutlich erhöht. Die Männer haben zudem den Rückstand auf die Frauen etwas verringert.

Die Lebenserwartung bei Geburt hat sich in der Schweiz deutlich erhöht. Die Männer haben zudem den Rückstand auf die Frauen etwas verringert.

Wer länger lebt, festigt die Gesellschaft

Alte Menschen verjüngen unsere Gesellschaft. Viele Senioren kleiden sich modern, lassen sich scheiden, probieren neue Lebensformen aus. Ihr Verhalten unterscheidet sich immer weniger von demjenigen jüngerer. Altersforscher Höpflinger spricht denn auch von einer soziokulturellen Verjüngung, welche die demografische Alterung kompensiert. Die Lebensabschnitte Ausbildung, Erwerbsarbeit und Ruhestand sind längst aufgebrochen.

Am meisten profitiert von der Langlebigkeit die Familie. Nie zuvor gab es Gesellschaften, in denen bis zu vier Generationen zusammenleben: Enkel, Eltern, Grosseltern und immer mehr auch Urgrosseltern. Da die Grosseltern noch in der Lage dazu sind, verbringen sie viel mehr Zeit mit den Enkeln als früher. Die Zuneigungsquote pro Kind steigt. Die Beziehungen in der Familie werden intensiver, der Zusammenhalt der Gesellschaft stärker. «Von einem Zusammenprall der Generationen kann keine Rede sein», sagt der Soziologe Peter Gross. Söhne und Töchter seien ihren Eltern über eine lange Zeitspanne näher und alterten mit ihnen, sagt auch Altersforscher Höpflinger. Das beeinflusse sie in ihrem eigenen Umgang mit dem Altern. Statt wie die eigenen Eltern bis zum Tode zu sparen, gehen viele Kinder lieber auf Reisen, solange sie fit sind. Oder sie bauen ihre Häuser früh um, damit sie im hohen Alter darin wohnen bleiben können.

Die Vorteile einer Gesellschaft mit einer langen Lebenserwartung wirken aber weit über die Grenzen der Familie hinaus. So verbessert sich die Reflexions- und Diskussionskultur, wenn in öffentlichen Debatten nicht eine Generation die Wahrheit für sich beanspruche. Beispielsweise, wenn es um historische oder politische Fragen geht. Der Soziologe Peter Gross geht sogar so weit, zu sagen, dass ältere Generationen generell ihre Altersmilde ausspielen und auf ein friedlicheres Zusammenleben hinwirken können. «Zu viele Junge, die um ihre Position kämpfen, führen zu einer aggressiven Gesellschaft», sagt er und verweist auf Entwicklungsländer. Ideal seien wenige Kinder und mehr Alte. Gross nennt dies eine «gemässigte Bevölkerungsstruktur». «Senioren prügeln sich nicht nur weniger, sondern neigen auch weniger zu Völlerei und Trinkgelagen», sagt er. Sie führen ein bewusstes, stressfreies und ressourcenschonendes Leben. So gesehen sei es zu bedauern, dass es nicht mehr Nationalräte über 70 gebe. Diese Altersgruppe sei schlecht vertreten. «Oft wird behauptet, Ältere schauten nur für sich. Dabei haben ältere Menschen alle Generationen im Blick», sagt Gross. Es seien eher die Jüngeren, die nur für sich schauten.